Unternehmen kann bei entsprechender Antragstellung gestattet werden, die Umsatzsteuer nicht nach vereinbarten Entgelten (sog. Soll-Versteuerung, § 16 Abs. 1 S. 1 UStG), sondern nach vereinnahmten Entgelten (sog. Ist-Versteuerung, § 20 UStG) zu berechnen. Dabei entsteht die Steuer mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Entgelte für die Leistung vereinnahmt worden sind. Zu der Rechtsfrage, ob bei Ist-Versteuerung des leistenden Unternehmers der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers bereits mit Ausführung der Leistung durch den Ist-Versteuerer oder erst mit Entrichtung des Entgelts zulässig ist, hat sich der EuGH in seinem Urteil vom 10. Februar 2022 (Az. C-9/20) positioniert.
Im Streitfall vermietete eine GbR ein Grundstück, das sie ihrerseits angemietet hatte. Sowohl die GbR als auch deren Vermieterin wandten die Ist-Versteuerung an. Aufgrund von Stundungen tätigte die GbR die Mietzahlungen teilweise um bis zu vier Jahre nachträglich. Sie machte den Vorsteuerabzug aus den ordnungsgemäßen (Dauer)Rechnungen in Gestalt des Mietvertrags jeweils für den Voranmeldungs- bzw. Besteuerungszeitraum geltend, in dem die Zahlungen geleistet worden waren. Das Finanzamt sah dies anders und erfasste die Vorsteuerbeträge rückwirkend in dem jeweiligen Zeitraum, in dem die Vermietungsleistung erbracht worden war. Infolge eingetretener Festsetzungsverjährung konnten allerdings nicht mehr sämtliche betroffene Jahre geändert werden, sodass die GbR einen Teil der Vorsteuerbeträge verloren hätte. Das Finanzgericht teilte die Auffassung des Finanzamts, hatte jedoch Zweifel, ob diese Sichtweise mit der EU-Mehrwertsteuersystemrichtlinie zu vereinbaren ist und wandte sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH, der mit seinem Urteil der für den Vorsteuerabzug maßgeblichen deutschen Rechtsauffassung widersprach.
Gemäß Art. 167 MwStSystRL entsteht der Vorsteueranspruch des Leistungsempfängers erst dann, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer tatsächlich entsteht. Es werden also das Recht auf Vorsteuerabzug einerseits und das Entstehen des fiskalen Steueranspruchs andererseits zeitlich miteinander verknüpft.
Nach der deutschen Rechtsauffassung ist es hingegen für die Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugs unerheblich, wann der Steueranspruch des Fiskus gegen den leistenden Unternehmer entsteht. Das deutsche UStG trifft in § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG keine klare Regelung, zu welchem Zeitpunkt das Recht auf Vorsteuerabzug besteht. Nach der Auffassung der deutschen Finanzverwaltung (Abschn. 15.2 Abs. 2 UStAE) entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug in dem Zeitpunkt, in dem erstmalig die beiden Voraussetzungen Leistungsausführung und Empfang einer ordnungsgemäßen Rechnung erfüllt sind. So hat eine auf Ebene des leistenden Unternehmers ggf. zur Anwendung kommende Ist-Versteuerung keine Auswirkung auf den Zeitpunkt des Vorsteuerabzugs beim Leistungsempfänger. Obwohl die Umsatzsteuer beim Leistenden in diesen Fällen nicht schon bei Leistungserbringung, sondern erst bei Zahlung durch den Leistungsempfänger entsteht, kann der Leistungsempfänger die Vorsteuer abziehen, wenn die Leistung erbracht ist und ihm eine ordnungsgemäße Rechnung vorliegt; auf die Zahlung an den leistenden Unternehmer kommt es nicht an.
Folglich kann der Leistungsempfänger nach der deutschen Regelung bereits die Vorsteuer geltend machen, obwohl der Ist-versteuernde Unternehmer die entsprechende Umsatzsteuer auf seine Leistung mangels Zahlung durch den Leistungsempfänger noch nicht schuldet. Diese Rechtsauffassung verstößt nach Ansicht des EuGH gegen Art. 167 MwStSystRL.
Da das Urteil die Leistungsempfänger von Ist-Versteuerern betrifft, ist es für alle Unternehmer relevant, unabhängig von einer Ist- oder Soll-Versteuerung ihrerseits.
Hinweise:
Bis zu einer Änderung der deutschen Regelung kann der Vorsteuerabzug trotz späterer Zahlung aber weiterhin geltend gemacht werden, sobald die Leistung erbracht wurde und die ordnungsgemäße Rechnung vorliegt. Sollte für den Leistungsempfänger im Einzelfall das EU-Recht günstiger sein, kann er sich auch hierauf berufen.
Mit der richtlinienkonformen Auslegung des § 15 Abs. 1 Nr. 1 S. 1 UStG nach Maßgabe des Art. 167 MwStSystRL dürfte die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs vor Begleichung der Rechnung entfallen. Dies hätte gegenüber der bisherigen Rechtslage in Deutschland eine strengere Handhabung bei der Geltendmachung des Vorsteueranspruchs und einen zunehmenden Bürokratieaufwand zur Folge, da der Leistungsempfänger bspw. zwischen seinen Vertragspartnern nach Soll- und Ist-Versteuerern unterscheiden muss, was für den Leistungsempfänger zusätzlichen Aufwand bei der Rechnungseingangsprüfung und der systemseitigen Erfassung in der Umsatzsteuervoranmeldung bedeutet. Die Finanzverwaltung dürfte sodann mit (noch) tiefergehenden Überprüfungen des Vorsteuerabzugs reagieren, da aufgrund uneinheitlich vorgenommener Vorsteuerabzugsbeträge eine doppelte Inanspruchnahme nicht auszuschließen wäre.
Aktuell ist für den Leistungsempfänger nicht erkennbar, ob es sich beim Leistenden um einen Soll-Versteuerer oder Ist-Versteuerer handelt. Die praktische Anwendbarkeit des Urteils erfordert daher zwingend auch die Umsetzung von Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL in nationales Recht. Diese Regelung sieht einen Rechnungshinweis des leistenden Unternehmens auf die Versteuerung nach vereinnahmten Entgelten vor. Auch nach der Umsetzung einer Regelung zur Hinweispflicht werden sich in der Praxis Folgeprobleme anschließen, z.B. die Frage, inwieweit sich der Leistungsempfänger auf den Hinweis bzw. den fehlenden Hinweis auf die Ist-Versteuerung verlassen darf.
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